Dienstag, 5. August 2025

Napoleons Revanche: Die Schlacht von Deutsch-Wagram 1809

2020 hatte ich das Schlachtfeld von Aspern-Essling bei Wien besucht. Es war Zufall, dass wir 5 Jahre später, am 6. Juli 2025 zum Jahrestag, auf dem Weg nach Ungarn an einem gewittrigen Tag erneut an der österreichischen Hauptstadt vorbeikamen. Von Wien aus ging es im Feierabendverkehr Richtung Nordosten. Auf den Autobahnschildern tauchte bereits der Ort einer weiteren prominenten Schlacht auf: Slavkov und Brna, kurz Austerlitz, in Südmähren. Doch das interessiert uns an diesem späten Sonntagnachmittag nicht. Gegen 16:30 erreichen wir den Ort der Schlacht – Deutsch-Wagram. Die Orientierung ist schwierig, anders als in Waterloo finden sich keine großen Hinweisschilder.

 


Nur kleinere Gedenkorte finden sich in Deutsch-Wagram (eigene Aufnahme)

Wie in Aspern-Essling ist der Besucher gezwungen, historische Karten der Schlacht zu nutzen, um sich ungefähr im gegenwärtigen Gelände zurechtzufinden. Dazu mehr am Schluss. Schauen wir uns zunächst an, was es mit dieser wirklich großräumigen Schlacht auf sich hat. 

Vorgeschichte

Die Schlacht von Deutsch-Wagram, die am 5. und 6. Juli 1809 stattfand, war eine der entscheidenden Auseinandersetzungen des Fünften Koalitionskrieges zwischen Napoleon Bonaparte und dem österreichischen Kaiserreich unter Erzherzog Karl. Der Krieg begann, als Österreich, unterstützt von Großbritannien, die Schwäche Frankreichs nach den Verlusten in Spanien ausnutzen wollte. Napoleon hatte zuvor die Kontrolle über weite Teile Europas erlangt, doch die österreichische Armee war entschlossen, die Vorherrschaft Frankreichs zu brechen.

Im April 1809 startete Österreich eine Offensive in Bayern, einem Verbündeten Napoleons. Nach anfänglichen Erfolgen der Österreicher, etwa in der Schlacht bei Aspern-Essling (Mai 1809), wo Napoleon erstmals eine klare Niederlage gegen Erzherzog Karl erlitt, sammelte Napoleon seine Kräfte für eine Gegenoffensive. Er verstärkte seine Grande Armée mit Truppen aus verschiedenen Teilen seines Reiches und bereitete sich auf eine Entscheidungsschlacht vor. Das Schlachtfeld bei Deutsch-Wagram, nordöstlich von Wien, wurde aufgrund seiner strategischen Lage ausgewählt: Es lag nahe der Donau und bot Raum für große Truppenbewegungen.

Ablauf der Schlacht

Erster Tag (5. Juli 1809)

Die Schlacht begann am Nachmittag des 5. Juli, als Napoleon versuchte, die österreichischen Linien bei Deutsch-Wagram zu durchbrechen. Die französische Armee, bestehend aus etwa 150.000 Mann, war gut organisiert, litt jedoch unter der Erschöpfung durch vorherige Kämpfe und die schwierige Überquerung der Donau. Napoleon setzte das IV. Korps unter Marschall Masséna und das III. Korps unter Marschall Davout ein, um die österreichischen Stellungen anzugreifen.

Erzherzog Karl, der rund 135.000 Mann befehligte, hatte seine Truppen in einer starken Verteidigungsposition entlang des Russbach-Flusses aufgestellt. Die österreichischen Korps, insbesondere das I. Korps unter General Bellegarde und das VI. Korps unter General Klenau, wehrten die ersten französischen Angriffe erfolgreich ab. Am Abend des 5. Juli zogen sich die Franzosen zurück, da die Angriffe unkoordiniert waren und die österreichische Artillerie verheerende Wirkung zeigte.

Zweiter Tag (6. Juli 1809)

Am Morgen des 6. Juli startete Napoleon einen erneuten Angriff mit besserer Koordination. Er konzentrierte seine Kräfte auf die Schwächung der österreichischen Flügel. Marschall Davout führte einen entscheidenden Angriff auf den linken österreichischen Flügel, während Masséna den rechten Flügel unter Druck setzte. Ein Schlüsselmoment war der Einsatz der französischen Artillerie, die mit über 400 Kanonen eine der größten Artillerieformationen der napoleonischen Kriege bildete. Diese "Große Batterie" zermürbte die österreichischen Linien.

Gegen Mittag gelang es den Franzosen, die österreichischen Stellungen bei Markgrafneusiedl zu durchbrechen. Erzherzog Karl versuchte, die Situation mit einem Gegenangriff zu stabilisieren, doch die französische Übermacht und die Erschöpfung seiner Truppen führten zu einem Rückzug. Am Abend des 6. Juli war die Schlacht entschieden, und die österreichische Armee zog sich in Richtung Mähren zurück.

Welchen Stellenwert die Schlacht in der Geschichte hat, zeigt ein Blick auf die beteiligten Kommandeure und Einheiten. Alles, was in den napoleonischen Kriegen Rang und Namen hatte, war zugegen.

Französische Seite

Oberbefehlshaber: Kaiser Napoleon I.

Wichtige Kommandeure:

o Marschall André Masséna (IV. Korps)

o Marschall Louis-Nicolas Davout (III. Korps)

o Marschall Jean-Baptiste Bernadotte (IX. Korps, sächsische Truppen)

o General Étienne Macdonald (Armee von Italien)

Einheiten:

o Grande Armée, bestehend aus französischen, italienischen, bayerischen, württembergischen und sächsischen Truppen.

o Starke Kavallerie unter General Nansouty und Artillerie unter General Lauriston.

Stärke: Ca. 150.000 Mann, 400–450 Kanonen.

Österreichische Seite

Oberbefehlshaber: Erzherzog Karl von Österreich-Teschen.

Wichtige Kommandeure:

o General Johann von Bellegarde (I. Korps)

o General Johann Kollowrat (II. Korps)

o General Johann von Klenau (VI. Korps)

o Fürst Johann von Liechtenstein (Kavallerie-Reserve)

Einheiten:

o Österreichische Hauptarmee, unterstützt von Landwehr und ungarischen Insurrektionstruppen.

o Starke Infanterie und Artillerie, jedoch schwächere Kavallerie im Vergleich zu den Franzosen.

Stärke: Ca. 135.000 Mann, 400 Kanonen.

Folgen

Die Schlacht von Deutsch-Wagram war ein strategischer Sieg für Napoleon, obwohl sie keine völlige Vernichtung der österreichischen Armee bedeutete. Die Verluste waren auf beiden Seiten enorm: Die Franzosen verloren etwa 32.000 Mann (Tote, Verwundete, Vermisste), die Österreicher etwa 40.000 Mann. Der Sieg festigte Napoleons Position in Mitteleuropa, führte jedoch zu einer Erschöpfung seiner Ressourcen.

Am 12. Juli 1809 wurde der Waffenstillstand von Znaim geschlossen, gefolgt vom Frieden von Schönbrunn am 14. Oktober 1809. Österreich musste Gebietsverluste hinnehmen, darunter Teile Kroatiens, Kärntens und Galiziens, und trat dem Kontinentalsystem Napoleons bei. Für Napoleon war der Sieg ein Pyrrhussieg, da die hohen Verluste und die wachsende Unzufriedenheit in Europa den Anfang vom Ende seiner Herrschaft markierten.

Zudem gab es einige bemerkenswerte Besonderheiten in Wagram:

Artillerie: Die Schlacht war durch den massiven Einsatz von Artillerie geprägt. Napoleons "Große Batterie" war ein taktisches Meisterwerk, das die österreichischen Linien zermürbte.

Wetter: Die Schlacht fand unter schwierigen Bedingungen statt, mit Hitze und Staub, die die Truppen beider Seiten belasteten.

Fehler Napoleons: Am ersten Tag waren die französischen Angriffe schlecht koordiniert, was Erzherzog Karl einen Vorteil verschaffte.

Sächsische Truppen: Das sächsische Korps unter Bernadotte zeigte Schwächen, was zu Spannungen zwischen Napoleon und seinem Marschall führte.

Heutiger Zustand des Schlachtfeldes und Erinnerungskultur

Das Schlachtfeld von Deutsch-Wagram liegt heute größtenteils in landwirtschaftlich genutzten Gebieten und ist teilweise überbaut. Die Stadt Deutsch-Wagram selbst bewahrt die Erinnerung an die Schlacht durch das Napoleon-Museum im Schloss Deutsch-Wagram, das Exponate wie Uniformen, Waffen und Karten ausstellt. Einige historische Gebäude, wie das Schloss, sind erhalten geblieben und dienen als kulturelle Stätten.

Auf dem Schlachtfeld gibt es mehrere Gedenksteine und Tafeln, die an die Kämpfe erinnern, etwa in Markgrafneusiedl und entlang des Russbachs.

 



Gedenkort in Aderklaa (eigene Aufnahme)

Jährlich finden in der Region Nachstellungen und Gedenkveranstaltungen statt, die von Geschichtsvereinen organisiert werden. Die Erinnerungskultur ist besonders in Österreich stark ausgeprägt, da die Schlacht als ein Moment gesehen wird, in dem Erzherzog Karl trotz der Niederlage seine militärische Kompetenz bewies.

In Frankreich wird die Schlacht weniger prominent gefeiert, da sie im Schatten größerer Siege wie Austerlitz steht. Dennoch ist sie in der napoleonischen Geschichtsschreibung als eine der größten Schlachten seiner Ära anerkannt. Wagram verdient einen höheren Stellenwert bei der Erinnerung an die Napoleonischen Kriege. 


Dienstag, 6. Mai 2025

Die Schlacht am Harzhorn und ihre archäologischen Ausgrabungen

 


Wer an der Autobahn 7 von Hildesheim Richtung Süden fährt, entdeckt rechts ein futuristisches Gebäude am Waldrand. Zuvor weist das Schild Harzhorn auf eine bedeutende archäologische Grabung: Das Harzhorn. Die Schlacht am Harzhorn, auch als Harzhornereignis bekannt, markiert einen bedeutenden Moment in der römisch-germanischen Geschichte. Um 235/236 n. Chr., unter der Herrschaft des ersten Soldatenkaisers Maximinus Thrax, trafen mehrere tausend römische Legionäre und ihre Hilfstruppen auf eine unbekannte Anzahl germanischer Krieger am Westrand des Harzes, nahe dem heutigen Kalefeld in Niedersachsen. Diese Konfrontation, die erst 2008 durch archäologische Funde bekannt wurde, widerlegt die lange gehaltene Annahme, dass die Römer nach der Varusschlacht (9 n. Chr.) keine größeren Feldzüge mehr tief in Germanien unternommen hätten. Dieser Artikel beleuchtet die historische Bedeutung der Schlacht, die Ereignisse, die zu ihr führten, sowie die Geschichte der archäologischen Ausgrabungen, die dieses Ereignis ans Licht brachten.

                                                              Info-Zentrum: eigene Aufnahme

                                                           
Historischer Kontext

Im 3. Jahrhundert n. Chr. stand das Römische Reich unter Druck. Im Osten bedrohten die Sassaniden die Grenzen, während germanische Stämme an Rhein und Donau für Unruhe sorgten. Kaiser Severus Alexander (222–235 n. Chr.) verlor das Vertrauen seiner Legionen, was zu einem Putsch führte, bei dem Maximinus Thrax (235–238 n. Chr.) den Thron bestieg. Maximinus, ein erfahrener Militär, führte 235 n. Chr. einen Rachefeldzug tief in germanisches Gebiet, vermutlich bis an die Elbe, um die Germanen zu bestrafen und seine Autorität zu festigen.

Die Schlacht am Harzhorn ereignete sich vermutlich auf dem Rückmarsch dieser Truppen. Das Schlachtfeld liegt an einer strategisch wichtigen Stelle: einem engen Pass, der eine alte Handelsroute kreuzte, heute durch die Bundesstraße 248 und die Autobahn A7 markiert. Dieser „Nadelöhr“-Pass, umgeben von steilen Hängen des Harzhorn-Höhenzugs, bot den Germanen eine ideale Gelegenheit für einen Hinterhalt.

Der Verlauf der Schlacht

Die genauen Details der Schlacht sind aufgrund fehlender detaillierter antiker Quellen schwer zu rekonstruieren. Archäologische Funde und die Geländebeschaffenheit lassen jedoch ein plausibles Szenario zu. Die römische Armee, bestehend aus mindestens 1.000 Legionären, Auxiliareinheiten, syrischen Bogenschützen und maurischen Speerschleuderern, marschierte von Norden nach Süden durch das Tal am Harzhorn. Die Germanen, vermutlich unter der Führung eines lokalen Anführers, nutzten die steilen Hänge und den engen Pass, um die schwer beladenen römischen Trosskarren anzugreifen.

Die Römer reagierten mit einem massiven Gegenangriff, unterstützt durch leichte Torsionsgeschütze (Scorpio-Katapulte), die Bolzenspitzen verschossen. Archäologen fanden zahlreiche Katapultbolzen, Pfeilspitzen und Speerspitzen, die auf intensive Fernkampfhandlungen hinweisen. Nahkampfwaffen sind seltener, da diese vermutlich von den Kämpfern mitgenommen oder geplündert wurden. Die Funde deuten darauf hin, dass die Römer, dank ihrer überlegenen Militärtechnologie, den Hinterhalt durchbrachen und als Sieger hervorgingen, da viele gut erhaltene römische Artefakte zurückgelassen wurden – ein Zeichen dafür, dass sie das Schlachtfeld kontrollierten.

Die Inschrift „LEG IIII“ auf einer römischen Axt weist auf die Beteiligung der vierten Legion hin, während Münzfunde, darunter eine abgegriffene Münze aus der Zeit des Kaisers Commodus (180–192 n. Chr.), die Schlacht in die Regierungszeit von Maximinus Thrax datieren.

 

Archäologische Entdeckung

Die Entdeckung des Schlachtfelds am Harzhorn begann im Jahr 2000, als zwei Hobbyarchäologen mit Metalldetektoren Artefakte fanden, darunter eine römische Pferdesandale (Hipposandale). Sie meldeten ihre Funde der Kreisarchäologie Northeim, was ihnen fast eine Strafanzeige eingebracht hätte, die 2008 mit systematischen Untersuchungen begann. Die Amtsarchäologen  stellten fest, dass es sich nicht um ein römisches Lager, sondern um ein ausgedehntes Schlachtfeld handelte.


                                                                Das Schlachtfeld: eigene Aufnahme

Die archäologischen Arbeiten wurden von einem Team des Niedersächsischen Landesamtes für Denkmalpflege, der Kreisarchäologie Northeim und der Freaver Freien Universität Berlin unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Meyer durchgeführt. Seit 2008 wurden über 2.700 Artefakte geborgen, darunter Sandalennägel, Katapultbolzen, Pfeil- und Speerspitzen, Wagenteile, Zeltheringe und ein fragmentarisches Kettenhemd eines römischen Soldaten – der erste derart gut erhaltene Fund auf einem römisch-germanischen Schlachtfeld.

Die Ausgrabungen konzentrierten sich auf den Hauptkamm des Harzhorns, wo eine hohe Funddichte an römischen Metallteilen festgestellt wurde. Besonders bemerkenswert ist die exzellente Erhaltung der Funde, die auf das basische Milieu des Kalksteinbodens zurückzuführen ist. Einige Geschossbolzen und Pfeilspitzen steckten noch in Felsspalten, was auf Fehlschüsse während des Gefechts hinweist.

                                                              Markierungen an den Fundstellen: eigene Aufnahme

Im Jahr 2010 wurde ein zweiter Fundplatz etwa zwei Kilometer südlich am Kahlberg entdeckt, was zeigt, dass sich die Kampfhandlungen über ein größeres Gebiet erstreckten. Die Prospektionen mit Metalldetektoren und gezielte Grabungsschnitte, die von 2009 bis 2013 und erneut 2018 durchgeführt wurden, ermöglichten es, einzelne Gefechtsabschnitte wie gezielte Pfeilsalven oder Infanterieangriffe nachzuvollziehen.

Wissenschaftliche und touristische Bedeutung

Die Funde am Harzhorn haben die historische Forschung revolutioniert. Sie belegen, dass die Römer im 3. Jahrhundert tief in Germanien operierten, was die bisherige Annahme widerlegt, dass sie nach der Varusschlacht und den Feldzügen des Germanicus (14–16 n. Chr.) keine größeren Vorstöße mehr unternahmen. Das Harzhornereignis gilt neben Kalkriese als eines der am besten erhaltenen antiken Schlachtfelder Europas und bietet einzigartige Einblicke in die römische Militärtechnologie und Taktik.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft förderte von 2017 bis 2020 das Projekt „Archäologische und geoarchäologische Untersuchungen am germanisch-römischen Schlachtfeld Harzhorn“, das die Erhaltungsbedingungen und Fundverteilungen systematisch untersuchte. Die Ergebnisse wurden in einer dreibändigen Monographie veröffentlicht, die als Band 77 der „Römisch-Germanischen Forschungen“ erschien.

Touristisch wurde das Gelände unter dem Slogan „Römerschlacht am Harzhorn“ als archäologisches Freilichtmuseum erschlossen. Ein Drei-Stufen-Plan sah den Ausbau der Infrastruktur vor, darunter ein Informationsgebäude, Rundwege, Schautafeln und ein Aussichtsturm. Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie EU-Mittel, lockt das Harzhorn heute Besucher mit Führungen, Reenactment-Veranstaltungen und Sonderausstellungen wie „Roms vergessener Feldzug“ (2013–2014) im Braunschweigischen Landesmuseum.

Resumée

Die Schlacht am Harzhorn und ihre archäologischen Ausgrabungen haben nicht nur die römische Militärgeschichte in Germanien neu beleuchtet, sondern auch gezeigt, wie moderne Archäologie historische Narrative korrigieren kann. Die Funde, von Katapultbolzen bis hin zum Kettenhemd, erzählen die Geschichte eines dramatischen Zusammenstoßes, der fast 1.800 Jahre im Verborgenen lag. Durch die fortlaufende Erforschung und touristische Erschließung bleibt das Harzhorn ein lebendiges Zeugnis der römisch-germanischen Beziehungen und ein faszinierendes Ziel für Geschichtsinteressierte.

 

Freitag, 1. Juli 2022

Von der Varusschlacht zum Varusereignis? Kalkriese weiter in der Diskussion

An Pfingsten 2022 war es nach der Corona-Zwangspause wieder soweit. Reenacter aus Italien, Rumänien und Deutschland (Foto, eigene Aufnahme) trafen sich auf dem mutmaßlichen Schlachtfeld von Kalkriese bei Osnabrück, um an die Varusschlacht im Jahre 9 nach Christus zu erinnern. Zuvor hatte der Streaming-Anbieter Netflix diesem Ereignis in "Barbaren" eine Serie gewidmet. Aber an was erinnern diese Akteure überhaupt? Bevor eine Antwort auf diese Frage versucht werden soll, ein Rückblick.


In der Niewedder-Senke, die sich in der Region Bramsche-Osnabrück befindet, hatten Bauern immer wieder Gegenstände im Boden entdeckt, die auf römische Präsenz hindeuteten. Das Dorf Kalkriese ist ganz in der Nähe und Mitte der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts ahnte dort noch niemand, dass der Ort bald weltbekannt werden sollte. Doch schon 100 Jahre zuvor war der Althistoriker Theodor Mommsen auf die Münzfunde im Osnabrücker Land aufmerksam geworden.  Er hatte daraufhin die Varusschlacht in dieser Region als möglichen Schauplatz verortet. 1987 nahm der 2014 verstorbene britische Offizier und Hobbyarchäologe "Tony" Clunn die Fährte auf und begann mit einem Metallsuchgerät seine Untersuchungstour in der Senke. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Ein Münzschatz mit 162 Denaren wurde zutage gefördert. Darüber hinaus fanden sich, was der Fundgeschichte eine entscheidende Wende gab, Schleuderbleie und zahlreiche römische Militaria. Es folgten eine Pionieraxt, die berühmte Gesichtsmaske (Foto Museum Kalkriese), Knochengruben, menschliche und tierische Skelettteile und schließlich später ein "Wall", der zunächst als Germanische Befestigung entlang eines römischen Marschweges gedeutet wurde... 




Rom in Nordwestdeutschland

Rom in Germanien - für viele sind das Städte wie Trier, Köln und Mainz, der Limes, der Südwesten, dort war "Rom in der kleinsten Hütte". Aber der Norden, das Münsterland, das Emsland, Ostfriesland und die Elbregion? Eine antike Brachfläche. Bestenfalls. Weit gefehlt: Um die Zeitenwende sahen diese Regionen große römische Feldzüge, ein Immensum Bellum; bekannte Namen wie Drusus und Germanicus aus kaiserlichen Familien, bedeutende militärische Kontingente der Römer und nachhaltige Siedlungen wie Haltern (Aliso) oder Waldgirmes, etwas weiter südlich, legen Zeugnis ab für den unbändigen Willen, diese Region für Rom zu unterwerfen.


                                                       Vetera (archäologischer Park, eigenes Bild)

Mit Beginn des augusteischen Zeitalters hatten die Römer ihre Grenze bis zum Rhein vorgeschoben. Kastelle wie Vetera (Xanten), das in den Varusereignissen eine Schlüsselrolle als Versorgungsbasis spielte, Köln und Mainz sicherten die Grenze. Jenseits des Rheins wohnten die Barbaren, ein Gewirr von Stämmen, Chauken und Cherusker an der Weser, Ampsivarier im Emsland, Bructerer im Münsterland, Marser an der Ruhr, uneins, zerstritten, manche bereit zum Bündnis mit Rom, andere wie Tiere, wie Tacitus abfällig spottete. Dazu eine Landschaft wie aus einem römischen Alptraum. Tiefe Wälder, Höhen, Hohlwege, schlechtes Wetter und eine barbarische Lebensweise. Bernstein, Frauenhaar, Schweine und Pferde waren Handelswaren, für die sich die Römer durchaus interessierten. Diese wurden an den Außenposten des Reiches, etwa in Xanten (Vetera), umgeschlagen.




Germanien zur Zeitenwende (Quelle Universität Osnabrück, Institut für Geschichte)
                                            
Diese Stämme stießen immer wieder auf römisches Gebiet vor. Bildeten eine permanente Bedrohung für die Römer. Kaiser Augustus wollte diese Bedrohung bändigen. Drusus, der Bruder des Tiberius, ist im Nordwesten zunächst erfolgreich. Bataver, Friesen und Chauken werden unterworfen. Germania Capta, den Triumph kann der Feldherr nicht mehr ernten, er stirbt nach einem Reitunfall an der Elbe. Die ist nun das Ziel der römischen Vorstöße. Die römische Vorgehensweise folgt dabei einer bestimmten Routine. In den warmen Jahreszeiten stoßen die Römer auf und entlang der Lippe nach Osten vor, handeln, halten in Sommerlagern wie Barkhausen bei Porta Westfalica Gericht und intervenieren in Stammeskonflikten. Dabei errichten sie entlang des Weges Etappenlager wie Oberaden, Bielefeld-Sennestadt und Anreppen. Im Spätsommer machen sie sich wieder auf den Weg zu ihren Winterlagern. Haltern bei Münster ist hier zu nennen. Und nichts darf diesen Rhythmus stören...


                                            Haltern (Aliso) Nachbau eines Tores Foto: LWL

Selbstüberschätzung und ein Verrat: Varus und Arminius

Was berichten römische Quellen über den weiteren Verlauf der Ereignisse in "Germania Capta"? Die Germanen hatten sich zunächst mit der römischen Präsenz arrangiert, ohne ihre Lebensgewohnheiten aufzugeben. Bis Quinctilius Varus "das Kommando" (Cassius Dio) in Germanien übernahm. Der Mann ist ein Karrierist und "harter Hund". Das hatte er zuvor in Syrien bewiesen. In Judäa schlug er in der Nachfolgefrage Herodes des Großen einen Aufstand nieder. Spielfilme über Jesus von Nazareth zeigen lange Reihen Gekreuzigter - und das ist nicht übertrieben. Es ist unlogisch anzunehmen, dass Varus diese Praxis in Germanien nicht fortsetzte. Die freiheitsliebenden Germanen jedenfalls beginnen sich gegen Varus zu empören. Cassius Dio 18/3:

(...) als aber Quinctilius Varus das Kommando in Germanien übernommen hatte und die Verhältnisse bei ihnen auf Grund seiner Amtsgewalt zu ordnen suchte, war er bestrebt, sie schneller völlig umzuformen; er gab ihnen generell Befehle, als ob sie schon in Knechtschaft lebten, und trieb von ihnen Tribute ein.

Die entehrende Kreuzesstrafe, falls Varus sie anwandte, und Tributeintreibungen, trafen hier auf einen Gegner, der solche Demütigungen nicht hinnehmen wollte. Doch wer sollte den Widerstand organisieren?

Jetzt betrat eine weitere Schlüsselfigur die Bühne. Seine römischer Name war Arminius, Hermann heißt er erst seit Martin Luther. Arminius war als Kind nach Rom gebracht worden. Das Kind sollte römisch erzogen werden und später als treuer Bundesgenosse nach Germanien zurückkehren. Sein Vater Segimer leistet seinem Stammesgenossen Segestes zunächst Gefolgschaft. Dieser Arminius bewährte sich, wie sein Bruder, bei den Römern, wurde laut Quellen von Kaiser Augustus in den Ritterstand erhoben. Er lernte die Annehmlichkeiten des Lebens schätzen, seine Identität wechselte er wohl nicht, er blieb im Herzen Cherusker. Und er lernte als Angehöriger der Hilfstruppen noch etwas anderes: Rom war in offener Feldschlacht nicht zu besiegen!

Dieser Arminius kehrte nun in seine Heimat zurück. Was er dort sah, wissen wir nicht, aber es scheint ihn abgestoßen und empört zu haben. Jetzt kreuzten sich die Wege des Arminius und des Varus zu einer entscheidenden Wende der Weltgeschichte. Arminius sollte den selbstverliebten Varus in eine Falle locken, was dieser bis zuletzt nicht wahrhaben wollte.

Marsch ins Verderben

Die vorliegenden Quellen erlauben nur sehr eingeschränkt eine Rekonstruktion der Ereignisse aus dem Jahre 9 nach Chr., weil feste Plätze, die als Bezugspunkte dienen könnten, fehlen. Varus nahm vermutlich mit den Legionen 17,18 und 19 den üblichen Weg die Lippe hinauf bis zu einem Lager an der Weser. In Barkhausen bei Porta Westfalica fanden Archäologen die Reste eines solchen Lagers. Dieses Sommerlager nutzte der Römer für Gerichtshandlungen und Tributzahlungen. Im Spätsommer oder Frühherbst musste Varus aufbrechen, um rechtzeitig die Winterlager an Rhein und Lippe zu erreichen. Infrage kommen hier Haltern und Vetera am Niederrhein. Nimmt man Lager in Bielefeld-Sennestadt, Anreppen, Oberaden und Olfen hinzu, dann lässt sich ein Weg durch die heutige Region Herford, Detmold, Bielefeld und Hamm annehmen. Diesen Weg hätte Varus nehmen müssen.

Doch hier setzte nun das Ablenkungsmanöver des Arminius an. Er lockte Varus mit dem Hinweis auf einen lokalen Aufstand jenseits des Marschweges von der Route weg. Varus misstraute trotz mehrfacher Warnungen Arminius nicht. Irgendwo auf der Route, wahrscheinlich zwischen Osnabrück und Detmold, "in der Nähe des Teutoburger Waldes" verließ Varus mit seinem Tross aus Soldaten, Frauen, Kindern und Ausrüstung den Weg. Ein Heerwurm von bald 20 Kilometer Länge schlängelte sich nun durch unwegsames germanisches Gelände. Damit nicht genug: Über dem Atlantik hatte sich ein Sturmtief zusammengebraut und zog Richtung "Nordwest-Germanien". Die römischen Chronisten (hier Cassius Dio 20/3) berichten davon, dass Sturm und Unwetter den Truppen zu schaffen machten.

(3) Noch dazu wurde die Kolonne durch heftigen Regen und Sturmwind weiter auseinandergezogen; der Boden war an den Wurzeln und Enden der Stämme ziemlich schlüpfrig geworden, so daß sie immer wieder ausglitten; vom Sturm zerborstene Baumkronen stürzten auf sie nieder und brachten sie in Verwirrung. 

Die schwere Ausrüstung der Römer saugte sich mit Regenwasser voll, die Germanen waren nur leicht bekleidet und ausgerüstet. Ihnen machte das Wetter nichts. Und so griffen nun die Germanen in einer wohl von Meldereitern gut koordinierten Aktion den römischen Tross mehrfach an. Die konnten nicht wie gewohnt in offener Formation kämpfen und wurden durch eine ihnen fremde Guerillataktik über wahrscheinlich drei bis vier Tage zermürbt.


                                            "Schildkröte" in Kalkriese (eigene Aufnahme)

Varus wollte Tempo zulegen und ließ seine Pfeilgeschütze verbrennen. Wie weit die Römer von der Route abwichen, das ist unbekannt. Die Kalkriese-These lässt die Spitze der Römer bis in die Nähe von Bramsche vorstoßen. Hier, eingeschlossen von einem Germanischen Wall zur Linken und einem Sumpf zur Rechten, gingen sie in die Falle. In einem stundenlangen Gemetzel gingen die Reste der Legionen unter. Varus selbst tötete sich mit seinem Schwert. Man trennte seinen Kopf ab und schickte ihn dem Markomannen-König Marbod nach Böhmen. Vae Victis, Wehe den Besiegten, so lautete eigentlich das Motto der Römer. Nun bekamen sie es selbst zu spüren. Römische Offiziere wurden den germanischen Göttern geopfert, auch bei den Soldaten durfte sich glücklich schätzen, wer gefallen war. Tacitus Annalen 61,3:

"In den benachbarten Hainen (fand man) Altäre der Barbaren, bei denen man die Tribunen und Centurionen ersten Ranges geopfert hatte." 

Das Schlachtfeld wurde von den Germanen gründlich geplündert. Feldzeichen, Metalle, Waffen und Ausrüstung verschwanden bei den Stämmen der Umgebung. Die Toten blieben unbestattet liegen. Nur wenige Überlebende konnten sich bis zum Lager Haltern durchschlagen. Sie gerieten in Ungnade und durften Rom und Italien nie wieder betreten. Die Germanen griffen weitere Stützpunkte der Römer an, kamen aber nicht über den Rhein oder gar bis Gallien.

Neue Zweifel an Kalkriese

Es war Germanicus, Vater des Caligula, der Jahre nach der Niederlage das Schlachtfeld des Varus betrat. Germanicus war von Augustus gemäß seiner Nachfolgeregelung als Imperator nach Tiberius vorgesehen. Nun sollte er, 5 Jahre später, den Status Quo ante bellum wieder herstellen und die Ehre der Römer rehabilitieren. Tacitus berichtet zunächst von Feldzügen gegen die Marser zwischen Ruhr und Lippe. Auch das Bündnis mit den Nordsee Küstenstämmen sollte er wieder herstellen. Tatsächlich gelang es, Beutestücke und Feldzeichen der untergegangenen Legionen sicherzustellen, Segestes, Gegner des Arminius, diente sich den Römern ein weiteres Mal an. Seine eigene Tochter Thusnelda, Gattin des Arminius, geriet schwanger in römische Gefangenschaft.

Die Aussicht, wieder unter Kontrolle der Römer zu geraten, ließ die Stämme in Nordwestdeutschland unter Arminius nun erneut zu den Waffen greifen. Dagegen wollte Germanicus vorgehen. Durch das heutige Münsterland, über die Ems und durch Teile der Niederlande stießen drei römische Armeegruppen vor. Das Land der Bructerer (Münsterland) wurde von Xanten (Vetera) aus von den Römern durchzogen und verwüstet. Eine Flotte von 1000 Schiffen stieß vom Dollart kommend die Ems hinauf vor und benutzte wohl den Fundplatz Bentumersiel im Landkreis Leer (Ostfriesland) als Nachschubbasis. Von da aus ging es weiter an den Mooren des heutigen Papenburg vorbei, schließlich über Haren und Lingen nach Süden. Die römische Reiterei unter Pedo gelangte aus den heutigen Niederlanden bis in die Region Rheine (die Ems ist bis Greven schiffbar). Dort war vielleicht der Treffpunkt der drei Heeresgruppen.

Entscheidend für den Schlachtort Kalkriese ist die Tatsache, dass es in diesem Feldzug zu weiteren Gefechten zwischen Römern und Germanen kam. Damit ist Kalkriese bei Osnabrück auch potenzielles Schlachtfeld der Germanicus-Feldzüge der Zeit um 16 nach Chr. Im Rahmen dieses Krieges betrat Germanicus nun den Ort der Varusschlacht. Dazu Tacitus:

Man sandte Caecina voraus, um die [S. 87] verborgenen Waldschluchten zu erforschen und Brücken und Dämme über die feuchten Sümpfe und trügerischen Ebenen anzulegen; dann betraten sie die traurigen Stätten, schmachvoll für den Anblick und die Erinnerungen. (2) Das erste Lager des Varus erwies sich dem weiten Umfang und den Ausmaßen des Hauptquartiers nach als das Werk dreier Legionen; dann erkannte man an dem halbzerstörten Wall und dem flachen Graben (die Stelle), an der sich die bereits dezimierten Reste niedergelassen hatten. Auf der Ebene dazwischen lagen die bleichenden Gebeine, zerstreut oder haufenweise, je nachdem, ob sie geflohen waren oder Widerstand geleistet hatten. (3) Daneben lagen Bruchstücke von Geschossen und Pferdegerippe, und an den Baumstämmen hatte man Schädel festgemacht. 

Hier wird ausdrücklich auf Befestigungen der Römer hingewiesen. Dass nun ausgerechnet dieser Umstand gegen Kalkriese als Ort der Varusschlacht in Stellung gebracht wird, mutet seltsam an. Die Westfälischen Nachrichten aus Münster titelten schon 2016:

Neue Funde in Kalkriese stützen Zweifel an der Varusschlacht-Theorie

Tatsächlich war der "Germanenwall" in Kalkriese immer als Teil der "Falle" beschrieben worden, die Arminius den Römern gestellt hat. Die entdeckten Wallreste sind aber vielleicht Teil einer provisorischen römischen Befestigung, die in großer Eile angelegt wurde, wie Professor Dr. Salavatore Ortisi vom Grabungsteam gegenüber Medienvertretern erläuterte. Kein Widerspruch zum potenziellen Ort der Varusschlacht! Denn Tacitus berichtet ja über einen römischen Wall. Der Erzähler Lucius Annaeus Florus kommt in seiner Varusschlacht-Darstellung sogar zu einer völlig abweichenden Darstellung: Demnach wurde Varus während einer leichtsinnig einberufenen Gerichtssitzung in seinem Lager angegriffen, die Legionen werden also statt auf dem Marsch in ihrem Lager vernichtet. Aber: Florus bleibt mit seiner Geschichte allein. Die "Lagertheorie" hat sich nicht durchgesetzt.

Nicht auszuschließen ist freilich, dass es sich um Spuren einer Schlacht aus den Germanicus-Feldzügen handelt. Denn auch Einheiten des römischen Legaten Aulus Caecina waren während der Vergeltungsfeldzüge des Germanicus in der "Schlacht an den Langen Brücken" (pontes longi) im Jahre 15 nur knapp einem Desaster entgangen. Wichtig: Nur 10 Kilometer von Kalkriese entfernt liegt der Ort Hunteburg. Hier wurden Reste eines Knüppeldammes gefunden, die sich ins Jahr 15 datieren lassen. Auch Waffen mit Kampfspuren wurden hier zutage gefördert. War Kalkriese also eigentlich die Schlacht an den Langen Brücken? Sicher beantworten lässt sich das nicht, denn die Schlacht wurde in der Vergangenheit auch in Dülmen zwischen Münster und Coesfeld verortet. Aufschluss könnten nur neue Funde bringen. Die Fundlage bleibt aber mager und unzweifelhafte Hinweise auf die drei vernichteten Legionen fehlen bislang an allen Fundorten.

Zweifel aufgrund der Quellen

Weit schwerer wiegen Widersprüche, die sich aus einer kritischen Analyse der Quellen bei Cassius Dio ergeben. Wenn Varus den Weg von Minden Richtung Haltern nahm, dann bewegte er sich weiter südlich als das Schlachtfeld von Kalkriese. Hinzu kommt, dass Cassius Dio und auch Tacitus das Schlachtfeld als verlassen, zerklüftet und unwegsam beschreiben. Der Teutoburger Wald zeigt solche Charakteristika eher Richtung Detmold und im Münsterland an den Dörenther Klippen. Nach der Vernichtung der Varus-Legionen gerieten die Germanen zudem gefährlich nahe an weitere römische Lager an der Lippe (Anreppen oder Oberaden). Auch das spricht eher für ein Schlachtfeld südlicher in der Region Bielefeld, Paderborn, Detmold (Karte unten), auf der Südroute nahe der heutigen Autobahn A2 zurück aus dem Raum Minden. Für Kalkriese nördlich von Osnabrück dagegen muss Varus enorm vom Weg abgewichen sein. In den Hinweisen auf die Vergeltung des Germanicus ist bei Tacitus zudem von der Region zwischen Ems und Lippe die Rede. Auch bei dieser Angabe macht Kalkriese nicht wirklich Sinn. Es sind also topographische und geografische Zweifel, die schwerer wiegen als die Entdeckung eines potenziellen römischen Walles bei Kalkriese.


                                                        Quelle: Unizeitung Münster


Doch alle Alternativorte können keine Militaria vorweisen, da ist Kalkriese, wenn auch in bescheidenem Maße, vorne. Kaum wegzudiskutieren sind die Knochenfunde in Kalkriese, die in Gruben bestattet wurden. Diese wiesen Spuren von Tierfraß auf, lagen also länger offen herum. Die Quellen berichten, dass Germanicus Bestattungen solcher Gebeine vornahm. Das heißt schon etwas, wenn europaweit die Suche nach antiken Schlachtfeldern wie Cannae mühsam und meist ergebnislos bleibt. Aber: Nur neue Funde und Analysen werden das Rätsel um den Ort der Varusschlacht endgültig lösen! Fest steht: Die Stämme Nordwestgermaniens haben Weltgeschichte geschrieben. Die Romanisierung Germaniens kam an Weser, Lippe Ruhr und Ems zum Stehen.

Nachtrag: Eine metallurgische Analyse konnte nun zweifelsfrei nachweisen, dass die 19. Legion, eine der Varus-Legionen, in Kalkriese zugegen war.



Genutzte Quellenedition: Landschaftsverband Westfalen-Lippe


abgerufen am 13.06.2022


Literatur

abgerufen am 01.07.2022

Neue Funde in Kalkriese stützen Zweifel an der Varusschlacht-Theorie (wn.de)

abgerufen am 01.07.2022

Streit um Kalkriese: Wo starben Varus’ Legionen wirklich? (chronico.de)

abgerufen am 15.06.2022

Bentumersiel (clades-variana.com)

abgerufen am 01.07.2022

LWL - Neue Überlegungen zur Varusschlacht - Westfalen Regional

abgerufen am 16.06.2022

Internet-Portal "Westfälische Geschichte" / ..14: Feldzüge des Germanicus (lwl.org)

abgerufen am 21.06.2022

Publikationen des Informationszentrums Kalkriese

Arminius, Varus und das Schlachtfeld von Kalkriese. Osnabrück 1999.

Kalkriese - Ort der Varusschlacht? Osnabrück 1994.

Eigene Studien

Althistorisches Seminar der WWU Münster 1990 zum Themenkomplex "Vetera (Xanten) und Kaiser Trajan"












Sonntag, 12. Juni 2022

Die Welt im (asymetrischen) Krieg

Die neue Ausgabe des internationalen Jahrbuchs von SIPRI weist weltweit 46 Konflikte für 2021 auf. Der neue zwischenstaatliche Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist noch nicht dabei. Die meisten Konflikte werden auf niedrigem Niveau geführt. Myanmar und der Jemen gehören zu den größeren Konflikten. Afghanistan ist im Sommer 2021 herausgefallen. Markant: In Mittelamerika kämpfen die Staaten immer öfter gegen militärisch organisierte Banden der Drogenszene. Der ganze Bericht:

https://sipri.org/sites/default/files/2022-06/yb22_summary_en_v2.pdf

Historisch: "Der letzte amerikanische Soldat verlässt Afghanistan. General Chris Donahue auf dem Weg zu einem Militärflugzeug in Kabul." Quelle (Bild): NZZ Online

Dienstag, 23. Februar 2021

Aspern-Essling: Besuch auf dem Schlachtfeld bei Wien - Napoleons erste Niederlage

 

        


Aspern liegt jenseits der Donau bei Wien. Der Ort ist heute Stadtentwicklungsgebiet und Teil der Hauptstadt. Man erreicht den Ort leicht mit der U-Bahnlinie Nr. 2 vom Karlsplatz aus. An der Aspernstraße steigt der Besucher, nachdem er den Prater und die Messe hinter sich gelassen hat, aus und benötigt anschließend 15 Minuten Fußweg links von der U-Bahnstation bis zum ehemaligen „Schlachtfeld“. Zielpunkt ist der „Löwe von Aspern“. Kein Schild, kein Hinweis erinnert an der U-Bahn an den Ort dieser großen Schlacht…

Vorgeschichte

Bevor es mit der Beschreibung der Gegebenheiten vor Ort weitergeht, ein Blick in die Geschichte. 1807, nach dem Frieden von Tilsit, befand sich Napoleon im Zenit seiner Macht. Preußen geschlagen, Russland hinter seine Grenzen zurückgeworfen, das Reichsgebiet im Rheinbund ein Vasall Frankreichs. Verwandte Napoleons regierten in Europa. Darunter illustre Figuren wie Jérome Bonaparte im Königreich Westfalen. Und Österreich? Leckte seine Wunden aus den vergangenen Auseinandersetzungen und hatte die Zeit für militärische Reformen genutzt. Doch die Landwehr war nur notdürftig bewaffnet und die Staatskasse leer.

Blieben die Engländer. Hinter dem Kanal, von der Flotte geschützt, leisteten sie dem Korsen in Paris weiter hartnäckigen Widerstand. In Portugal wurde die Kontinentalsperre durch England ausgehebelt. Britische Waren landeten ungestört an und das war Napoleon ein permanenter Dorn im Auge. Spanien war der Schlüssel. Für eine Seeoperation war die französische Flotte seit Trafalgar nicht stark genug. Blieb nur der Weg über Spanien. Das war der Ausgangspunkt für den Krieg von 1809, der Napoleons Abstieg einleitete. 1807 hatte sich Frankreich Durchmarschrechte in Spanien gesichert. Die zerstrittenen Bourbonen Karl und Ferdinand, Vater und Sohn, wurden von Napoleon zur Abdankung gezwungen. An ihre Stelle trat in Madrid Joseph, der Bruder Napoleons.

Napoleon hatte die Rechnung ohne die katholische Bevölkerung Spaniens gemacht. Die erhob sich in einem grausamen Guerillakrieg und band fortan starke französische Kräfte in Spanien. Die Lage verschärfte sich, als General Arthur Wellesley (Lord Wellington), der spätere Sieger von Waterloo, in Portugal landete. Hier musste nun Napoleon selbst eingreifen…

Übrigens: Cary Grant hat mit Sophia Loren und Frank Sinatra diesen Ereignissen in „Stolz und Leidenschaft“ ein unvergessliches filmisches Denkmal gesetzt.

Doch was das alles mit der Schlacht von Aspern zu tun? Nun, in Österreich und Preußen beobachtete man das Desaster in Spanien mit großem Interesse. Die Franzosen waren in Spanien gebunden. Die Chance zum Volksaufstand war gegeben. Während in Preußen die Pläne zur Erhebung aufgedeckt wurden und den Freiherr von Stein um Amt und Würden brachten, setzte in Österreich Graf Stadion die Pläne zur Offensive um. Ein Appell des österreichischen Erzherzogs Karl zur Erhebung der Deutschen verhallte bis auf wenige Einzelaktionen in Norddeutschland ergebnislos. Der preußische Offizier Ferdinand von Schill etwa stand von Anfang an auf verlorenem Posten.

Am Ende ging Österreich deshalb, nur auf die Briten gestützt, in Bayern allein zum Angriff über. Der 5. Koalitionskrieg hatte begonnen.

Der Kriegsverlauf bis Aspern

Mit dem Wissen, dass Frankreichs Armee in Spanien gebunden war, nahm der Kommandeur der Österreicher, Erzherzog Karl, den Kampf auf. Von Böhmen aus wollte er die in Süddeutschland verstreuten Korps der Franzosen einzeln angehen und schlagen. Gleichzeitig sollte Erzherzog Johann in Italien vorrücken. Beides misslang. Johann wurde bis Ungarn zurückgetrieben und Karl von Napoleon, der wieder auf Schnelligkeit setzte, in einer Reihe von Kämpfen im Raum Regensburg geschlagen. Ein von Andreas Hofer geführter Aufstand in Tirol verlief, anders als Revolten in Norddeutschland, mit österreichischer Unterstützung zunächst erfolgreich. Mit einem Vorstoß Richtung Warschau sollte Erzherzog Ferdinand schließlich die mit Frankreich verbündeten Polen neutralisieren.

Napoleons Tempo vereitelte wieder einmal alle Pläne seiner Gegner. Er entriss Österreich, das ja alleine kämpfte, die Initiative. Karl bliebt keine andere Möglichkeit als sich Richtung Wien zurückzuziehen. Zu halbherzig waren die militärischen Reformen, zu langsam die Befehlsketten gewesen, um den Franzosen und ihrem Oberbefehlshaber wirklich die Stirn zu bieten.

Die Entscheidung aber fiel weder in Nord- noch Süddeutschland. Erzherzog Karl hatte seine Truppen bei Wien konzentriert und beorderte auch die anderen Truppenteile dorthin zurück. Ihm dicht auf den Fersen folgte Napoleon am Südufer der Donau. Die Österreichischen Kommandeure Hiller und Erzherzog Karl verzichteten auf die Verteidigung Wiens. Sie sammelten ihre Armeen vielmehr auf dem Marchfeld östlich der Donau. Diese Region war eine Ansammlung kleiner Dörfer, zu denen auch Aspern und Essling gehörten. Das Gelände war flach und ging erst weiter nordwestlich in hügeliges Terrain über. Das ist auch heute noch gut zu sehen. Hier nun sammelte Karl seine Armee. Mit Hillers Truppen und den Einheiten der Wiener Garnison konnte er immerhin rund 95000 Mann und 260 Kanonen zusammenbringen. Zerstörte Donaubrücken verhinderten eine rasche Verfolgung durch Napoleon.

Die Schlacht

Die Schlacht von Aspern-Essling wurde über zwei Tage, vom 21. Bis 22. Mai 1809, ausgetragen. Napoleon stand von Anfang an vor dem Problem, die Donau auf Pontonbrücken überqueren zu müssen. Das wog umso schwerer, als dass der Fluss Hochwasser führte. Lediglich das Gebiet der Donauinsel Lobau bot mit einigen Sandbänken die Möglichkeit zum Brückenschlag. Karl dachte gar nicht daran, die Franzosen auf der Wiener Donauseite anzugreifen. Er ließ die Franzosen stattdessen, ähnlich wie General Lee die Nordstaatler rund 60 Jahre später bei Fredericksburg, über die Pontons das andere Ufer erreichen, um dann die in begrenzter Zahl übergesetzten Truppenteile anzugreifen. Mit dem Rücken zum Fluss waren die Franzosen zudem taktisch klar im Nachteil. Soweit der Plan.

Tatsächlich stellten die Franzosen die Brücken bis 20. Mai fertig. Die Österreicher störten den Bau, indem Sie Baumstämme flussabwärts schickten. Nichtsdestotrotz setzte Napoleon bis 21. Mai 23 000 Mann über. Diese besetzten Aspern und Essling und postierten Kavallerie dazwischen.

Die zahlenmäßig überlegenen Österreicher sahen ihre Chance und griffen um 10:00 Uhr diese Truppenkörper frontal an. Wieder einmal machte die schlechte zeitliche Abstimmung des Angriffs den Österreichern einen Strich durch die Rechnung. Nur einen Teil von Aspern konnten sie einnehmen. Ansonsten hielten Massena in Aspern und Marshall Lannes in Essling die Stellung. Napoleon brachte bis zum Morgen des 22. Mai zudem weitere Verstärkungen heran. Diese eroberten auch die bescheidenen Geländegewinne der Österreicher in Aspern zurück. Damit nicht genug. Napoleon wollte nun seinerseits die Österreicher vernichtend schlagen. Es war Napoleons Freund, Marshall Lannes, der die Führung übernahm. Und bei diesem Angriff schwer verwundet wurde. Erzherzog Karl sammelte in dieser Schlussphase der Schlacht seine Truppen und wehrte den Angriff des Gegners unter beiderseitigen schweren Verlusten ab. Er verzichtete auf die Verfolgung des Gegners, der sich geordnet auf die Insel Lobau zurückzog.

Die Kämpfe hatten auf beiden Seiten Zehntausende Opfer mit sich gebracht. Es war der traumatisierte, tödlich verwundete, Marshall Lannes, der seinem Freund Napoleon ins Gesicht sagte, dass er diesem Krieg ein Ende machen solle.

Dieses Ende kam Wochen später im Juli. Bei Wagram, ebenfalls in der Umgebung von Wien, konnte Napoleon den Krieg von 1809 für sich entscheiden.

Um weitere Kriege mit Österreich zu verhindern, heiratete Napoleon die Tochter von Kaiser Franz, Marie Louise. Rund 15 Jahre nach dem Tod von Marie Antoinette auf dem Schafott, übernahm wieder eine Österreicherin Verantwortung für die royale Nachfolge in Paris…

Schlachtfeldarchäologie und Erinnerungskultur

Aspern gehört heute zur Stadt Wien. Bereits 1904 wurde das Dorf in die Stadt eingegliedert. Als erstes wurde auf dem alten Schlachtfeld ein Flugplatz gerichtet. Der Flugplatz war von 1912 bis 1977 in Betrieb. Später errichtete General Motors ein Werk, darüber hinaus entstand in der Region ein Wohnprojekt. Bei diesen Bauarbeiten wurden neben Funden aus der Bronzezeit auch immer wieder Massengräber aus der Schlacht von Aspern entdeckt. Eine systematische Untersuchung jedoch fand nie statt. Heute werden alle Baumaßnahmen der Stadt Wien von qualifizierten Archäologen überwacht. Ungefähr seit 2005 werden alle Skelette einer wissenschaftlichen Untersuchung übergeben.

Viele Gefallene der Schlacht wurden an Ort und Stelle begraben. Die Toten wurden hastig und in Unordnung beerdigt. In den Gräbern fanden sich kaum Gegenstände oder Uniformen. Das deutet darauf hin, dass die Leichen ausgeraubt wurden. Lediglich Uniformknöpfe ließen sich zuordnen. Massenhaft gefunden wurden nur Kugeln aus Blei oder Eisen. Aus den Knochenfunden geht hervor, dass viele Soldaten bereits zum Zeitpunkt ihres Todes an Krankheiten litten. Die Zahngesundheit war schlecht. Viele Soldaten waren zudem schlecht ernährt. Alle Skelette zeigten Zeichen großer körperlicher Anstrengung. Besonders die langen Märsche hinterließen ihre Spuren an Füßen und Gelenken.

Eine Begehung des Schlachtfeldes ist heute nicht mehr möglich. Gewerbegebiete, Häuser, Straßen und Parkplätze haben den Ort der Schlacht bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Nur ein kleiner Flecken in Aspern erinnert noch an den Kampf. Das ist der Löwe von Aspern (Bild, eigene Aufnahme). Das Denkmal befindet sich vor einer Kirche um die sich verschiedene Gedenksteine und ein Museum gruppieren.



Weitere Bauarbeiten in dieser Gegend werden über kurz oder lang die Erinnerung an diese Schlacht überlagern. Nur der Löwe und die Toten werden dann stumme Zeugen dieses Gemetzels sein.

Autor:

Stefan Slaby verkürzte Version eines Fachbeitrages aus 10/2020

Mittwoch, 8. April 2020

Siebenjähriger Krieg: Schlacht bei Vellinghausen – Führung schlägt Stärke


Prolog

Allein die Zahlen klingen Atem beraubend: 140.000 Franzosen unter den Kommandeuren Soubise und Broglie treffen auf 70.000 Mann der Verbündeten Preußens unter Ferdinand von Braunschweig, einem der genialsten Militärs seiner Zeit. Der Ausgang bei solchen Kräfteverhältnissen müsste eigentlich klar sein. Wäre es nicht geradezu eine Kunst für die Franzosen, eine solche Schlacht zu verlieren? Man wird sehen…

Doch vorher wollen wir uns den Kampf im Herzen Westfalens selbst anschauen. Das geschieht in vier Schritten: Historische und geografische Einordnung, Beschreibung der Armeen, Erläuterung des Schlachtverlaufs und der Folgen. Ich habe für meine Darstellung weit zurückgreifen müssen. Eine regionalgeschichtliche Arbeit des Lehrers Heinrich Dreckhoff aus dem Jahre 1907 und eine landschaftsgeografisch angelegte Arbeit von Friedrich Menneking aus dem Jahre 1988 dienten als Basis für diese Darstellung. Ergänzt habe ich die schriftlichen Quellen durch eine Begehung vor Ort, um mir einen Eindruck von den geografischen Dimensionen zu machen.

                                           
                                            Denkmal am Straßenrand

Geografie und Geschichte

Die am 15. und 16. Juli 1761 geschlagene Schlacht bei Vellinghausen war Teil des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) in Westdeutschland. Sie fällt also in die Endphase dieses weltweiten Konfliktes zwischen England und Preußen auf der einen Seite sowie Frankreich, Österreich, Russland, dem Reich und Schweden auf der anderen Seite. In Vellinghausen standen sich Franzosen und Engländer sowie deutsche Kontingente gegenüber. Hinzu kamen einige nach Westen abkommandierte preußische Einheiten, Husaren, die an bewaffneten Aufklärungsaktionen beteiligt waren. Hier im Westen hielt Herzog Ferdinand von Braunschweig Friedrich dem Großen den Rücken frei. Immer wieder parierte dieser geniale Kommandeur Angriffe großer französischer Armeen zwischen Bremen und Frankfurt/Main. So bei Krefeld (1758), Minden (1759) und Warburg (1760). Letztere schaffte es sogar in Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ zu filmischem Ruhm. Vellinghausen ordnet sich hier also lückenlos ein.


                                Der Ort Vellinghausen: Historische Gebäude

Das Schlachtfeld von Vellinghausen liegt zwischen Hamm und Lippstadt. Nördlich wird das Gebiet von der Lippe abgegrenzt, südlich schlängelt sich die Ruhr über Schwerte bis Wickede. Strategisch wichtig waren in der Region die befestigten Plätze in Hamm, Soest und weiter nördlich Münster, das mehrfach belagert und erobert wurde. Erwähnenswert sind auch die Basen der Armeen in Unna, das ebenfalls in der Nähe zum Schauplatz liegt und Werl am Rande des Operationsgebietes. Anders als der Kriegsschauplatz in Hessen ist das Gebiet relativ flach, von Äckern, Dörfern, Höfen, Hecken und Wäldern geprägt. Einige sanfte Höhenzüge, hier ist der Dinkerberg zu erwähnen, bieten Schutz und die Möglichkeit zur exponierten Aufstellung von Artillerie und Truppen. Von West nach Ost zog sich als wichtiger Verkehrsweg der Hellweg durch die Landschaft. Heute folgt man der A2, der A44 oder der B1 von Westen kommend, um in die Gegend zu gelangen. 1761 nahmen sich die Verkehrswege unbefestigt mangelhaft aus. Bei starkem Regen verwandelten sich diese „Straßen“ regelmäßig in einen Morast. Für Geschütze und Gespanne des Nachschubtrosses eine echte Herausforderung. Dagegen boten einige Gehöfte der Region der Infanterie gute Verteidigungsmöglichkeiten. Das also waren die Bedingungen, unter denen die Riesenheere bei Hamm 1761 aufeinandertrafen.


                                Das Schlachtfeld aus der französischen Sicht
                                

1761 – Peripetie des Krieges?

Erschöpfung – so lässt sich der Zustand der Kriegsparteien im 5. Kriegsjahr beschreiben. Die Preußen waren zu offensiven Aktionen nicht mehr imstande und bezogen im Sommer das befestigte Lager bei Bunzelwitz. Kolberg fiel ebenso wie Schweidnitz. In den Amerikas hatten die Franzosen die Initiative bereits an die Engländer verloren. Montreal und Dominica waren an die Briten gefallen. In dieser Situation hatte der Herzog von Choiseul, Staatssekretär für äußere Angelegenheiten, den eigenen Kommandeuren enge Ziele gesetzt. Diese sollten 1761 günstige Bedingungen für einen Waffenstillstand erkämpfen. Das hatten Engländer, Hannoveraner und Braunschweiger auf der anderen Seite zu verhindern.

Gegen diesen Trend zur Ermüdung war in Westdeutschland Ferdinand von Braunschweig zur Offensive angetreten. Sein Bruder, der Erbprinz, sollte den Franzosen Hessen wegnehmen. Westfalen dagegen wurde gesichert. Hierzu ließ man Rüthen und Lippstadt befestigen. Den Einwohnern war es gleichgültig, denn für sie bedeuteten die Maßnahmen, egal von wem sie angeordnet wurden, Belastungen und Arbeit. Schanz- und Transportarbeiten genauer gesagt, die noch dazu von französischen Streifkorps in Scharmützeln gestört wurden.

Zur Offensive in Hessen traten im Frühjahr neben den Truppen des Erbprinzen auch Einheiten aus Göttingen an. Die standen unter dem Kommando General Spörckens. Erstes Ziel war Kassel. Eine Belagerung sollte die Franzosen vertreiben. Bereits das misslang Ende März 1761. Und so zogen sich Herzog Ferdinand ins Paderborner Land und der Erbprinz ins Münsterland zurück. Nur Spörken verblieb in der Nähe von Kassel in Warburg.

Fehlten nur noch die Franzosen. Unter dem Kommando des Prinzen von Soubise zogen die ihre Kräfte bei Düsseldorf, Wesel und Rees zusammen. Damit rückte Westfalen als Schauplatz einer größeren Auseinandersetzung in den Fokus.

Hessische Husaren, die bis Soest, Werl und Dortmund vorstießen, übernahmen die Beobachtung der Franzosen. Unterdessen bereiteten sich Münster und Lippstadt auf die Verteidigung vor.

Der französische Plan sah nun seinerseits vor, in zwei Gruppen vorzustoßen. Eine Gruppe hatte vom Niederrhein die britischen Alliierten in Westfalen festzuhalten, die andere sollte von Hessen aus Hannover und Braunschweig erobern.

Aufmarsch und Aufstellung

Ende Juni brachen die Franzosen vom Niederrhein und von Hessen auf. Am 6. Juli vereinigten sich beide Armeen unter ihren Kommandeuren  Charles de Rohan, Prince de Soubise und Victor-François de Broglies  bei Soest. Eine für die währenddessen bis Hamm vorgestoßene Armee Ferdinands gefährliche Situation.

Die Massierung so großer Truppenmassen in der ärmlichen Region bedeutete für die Zivilbevölkerung enorme Lasten. Entnahmen von Brennholz, Hausrat, Zugtieren und Futtermitteln sowie Zwangsrekrutierungen, Verpflichtungen als Trossknechte, Beschlagnahme von Lebensmitteln – die ausgepumpte Region litt unsäglich, die vielbeschworene Ritterlichkeit der Kriegsführung blieb ein Phantasiegebilde des kämpfenden Adels. Einfache Bürger auf dem Land profitierten nicht wirklich von der „gezähmten Bellona“.

Für die Armeen tat das Wetter ein Übriges. Die Chroniken verzeichnen für den Frühsommer 1761 in Westfalen einen steten Wechsel von heftigen Niederschlägen, Gewittern, Hagelschlag und Hitze. Die dürftigen Wege wurden teils unpassierbar.

Zwischen Hamm und Soest trafen die feindlichen Armeen nun aufeinander. Diese setzten sich auf alliierter Seite aus Hannoveranern, Briten, Braunschweigern, Hessen und Preußen zusammen. Ihnen stand das Heer aus zahlenmäßig weit überlegenen Franzosen gegenüber. Dabei geschah die Aufstellung der Truppen in Umkehrung der eigentlichen geopolitischen Ausgangslage im Kriegstheater. Anders gesagt: Die Franzosen kamen aus Soest, d. h. aus dem Osten, die Engländer und ihre Verbündeten aus Hamm, also dem Westen. Ferdinand von Braunschweig achtete darauf, Hamm und die Lippeübergänge in seinem Rücken zu sichern. Von Hamm aus gesehen bildeten die Briten und Lord Granby den linken Flügel seiner Streitmacht, unterstützt von Truppen des hessischen Generals Wutgenau.

Dem Dorf Vellinghausen kam wegen der Landstraße zwischen Hamm und Lippstadt auf dem Gefechtsfeld Bedeutung zu. Die weitere Linie Ferdinands bildeten Einheiten des Prinzen von Anhalt sowie britische Korps unter Howard und Cornwall. Unter den Einwohnern erregten die prächtigen Bergschotten Aufsehen, die im Verlauf der Schlacht einen hohen Tribut zahlen sollten.

Ferdinand selbst bezog etwas rückwärtig im Haus Hohenover sein Hauptquartier.


 


Karte der Schlacht von Vellinghausen, von John Fawkes, britishbattles.com, abgerufen am 05.03.2019, 17:00 Uhr


Als Reserve auf der anderen Seite der Lippe hielt sich Spörcken bereit. Granby hatte auf dem sanften Dinkerberg Position bezogen, wo er später unter Druck geriet und durch 12- und 6-Pfünder Geschütze entscheidende Unterstützung erhielt. Das Schlachtfeld wurde durch die Ahse, einen Nebenarm der Lippe, geteilt. Das Flüsschen lag an der Nahtstelle der französischen Aufstellung. Von Soest aus die rechte Flanke der Franzosen zwischen Lippe und Ahse bildete die Armee Broglies, die linke, etwas zurückhängende Flanke, die Soubises.

Die Franzosen waren mit dieser Aufstellung von ihren Basen am Rhein abgeschnitten, die Schlacht damit unvermeidlich geworden. Die Truppen waren auf 70.000 Alliierte und 140.000 Franzosen angewachsen.


Die Schlacht

Die Tage vor der eigentlichen Schlacht waren von Vorpostengefechten, Geplänkel und bewaffneten Aufklärungen geprägt. Im Zuge dieser Aktionen wäre Broglie beinahe von preußischen Husaren gefangen genommen worden. Er konnte entkommen, allein sein Fernrohr und sein Hut fielen in die Hände des Feindes.

Am 15. Juli 1761 um 16:00 beginnt die Schlacht. Sie konzentriert sich auf zwei Punkte. Das Dorf Vellinghausen und Umgebung sowie den Ort Scheidingen.

An der ganzen Linie, die sich kilometerweit durch die Landschaft zog, wurde also nicht gekämpft. Schlachten des 18. Jahrhundert kannten weder das Prinzip des totalen noch des Vernichtungskrieges. Es galt, begrenzte taktische Ziele zu erreichen. Friedrich der Große bildete mit seinen oft sehr verlustreichen Kämpfen im Osten, etwa bei Kunersdorf, eine Ausnahme. Die Armeen waren den Befehlshabern viel zu wertvoll, um sie in einer Schlacht komplett aufs Spiel zu setzen.

Und so beginnt der Angriff mit einem taktischen Vorstoß Broglies bei Vellinghausen, in dessen Nähe eine wichtige Straße verläuft. Drei Kolonnen rücken vor. Der Angriff ist mit Soubise nicht abgestimmt. Die Koordinationsprobleme beider Befehlshaber bilden die Basis für die spätere Niederlage.

Nichtsdestotrotz: Granbys Vorposten im Dorf müssen weichen und auch auf dem Dinkerberg geraten die Briten unter Druck. Versuche der Alliierten, Terrain gutzumachen, scheitern zunächst. Angriff und Abwehr werden von der Artillerie beider Seiten massiv unterstützt. Anhöhen und bewaldetes Gelände vermindern jedoch die Wirkung. Sonst wären die Verluste wahrscheinlich erheblich größer ausgefallen. Ferdinands befohlener Gegenangriff auf Vellinghausen jedenfalls misslingt zunächst. Der hessische General Wutgenau und die britische Legion müssen zurück, nachdem die französischen Brigaden Du Roy und Dauphin eingreifen. Gegen 22:00 wird Vellinghausen von den Alliierten gänzlich aufgegeben. Die Kämpfe flauen ab. Die Nacht nutzen beide Seiten, um Verstärkungen heranzuführen.

Für die zurückgebliebenen Bewohner ist das Feuer ein Inferno. Eine Mutter und ihr Kind werden von einer Kanonenkugel getötet. Häuser, Bäume und Ställe werden von Geschossen regelrecht durchlöchert.

Mit dem Morgengrauen des 16. Juli beginnt nicht nur der Kampf um Vellinghausen erneut, auch im Abschnitt des Prinzen de Soubise wird nun gekämpft. Ab 6 Uhr greifen dessen Truppen vor dem Ort Scheidingen bei Welver an. Die Entscheidung fällt allerdings zunächst im Abschnitt Broglies. Um 9 Uhr platzieren die Franzosen Artillerie auf einer taktisch wichtigen Anhöhe, dem Parenberg. Ferdinand erkennt die Gefahr und befiehlt den Angriff.

Was nun geschieht, kann nur als Katastrophe für die Franzosen bezeichnet werden. Unter dem Druck des britisch-deutschen Angriffs brechen die französischen Linien komplett zusammen. Die Franzosen nehmen Reißaus, so schnell, dass nur noch Kavallerie sie einholen könnte. Das komplette Regiment Rougé wird gefangen genommen, der Befehlshaber selbst schwer verwundet. Er wird später seinen Verletzungen erliegen, wie weitere Kommandeure auch.

Broglie befiehlt nun den allgemeinen Rückzug, dem Soubise sich anschließt. Um 12:00 Uhr am 16. Juli sind alle Kampfhandlungen beendet.


                                Erinnerungskultur im Heimathaus Welver

Epilog

Die Verluste der Franzosen betragen rund 5000 Mann, 19 Kanonen und 9 Fahnen. Die Alliierten verlieren 1348 Mann und drei Kanonen, sie behaupten aber das Schlachtfeld, die Franzosen ziehen sich unter chaotischen Umständen nach Soest zurück. Beide Armeen verbleiben noch einige Zeit in der Region und strapazieren die Haushalte weiter. Die Bewohner sind nun nicht nur mit Toten und Verwundeten überfordert, auch die Plünderungen von Hausrat und Holz gehen unvermindert weiter. Felder sind zertrampelt, Häuser verwüstet.

Strategisch sind jetzt keine Bewegungen mehr möglich, das Jahr 1761 bringt keine weiteren großen Auseinandersetzungen. Broglie und Soubise haben sich endgültig überworfen. Es ist Napoleon, der über die beiden bei Vellinghausen ein vernichtendes Urteil fällt. Zögern, Zaudern und Uneinigkeit macht er als Ursachen für das französische Desaster aus.

Auf der anderen Seite steht Ferdinand, der Friedrich dem Großen nach dem Siebenjährigen Krieg bei einem Besuch auf dem Schlachtfeld die Ereignisse persönlich schildert. Der Sieg ist sein Verdienst, überlegene Führung und die Disziplin seiner Truppen haben die zahlenmäßige Überlegenheit der Franzosen klar neutralisiert.

Kurzversion eines Fachbeitrages aus dem Jahre 2019.