Verdun heute
Wo der Krieg auch nach 100 Jahren noch lebendig ist
In Azincourt oder Minden findet der Schlachtfeldtourist nichts, was an
die Kämpfe vergangener Epochen erinnert. Das Wetter und die Menschen haben alle
Schlachtspuren beseitigt. Was für ein
Unterschied ist da eine Reise nach Verdun, an die Somme oder nach Flandern. Nichts
beeindruckt so nachhaltig, wie ein Besuch auf den Schlachtfeldern des Großen
Krieges. Besucher sehen die Spuren der Schlacht in der Landschaft, sie sehen
die Stacheldrahtverhaue, Bunker, Unterstände, ja sie sehen Knochen und
Ausrüstung der Gefallenen!
Besonders ausgeprägt ist das in Verdun. Teilweise sieht es dort aus, als
hätten die Soldaten ihre Unterstände gerade erst verlassen. Wer Dioramen kreieren
will, hier wird er fündig, er kann am Objekt studieren! 2016 bis 2018 wird in
Frankreich und Deutschland nun der Schlacht offiziell gedacht.
Die Schlacht
Hier soll es nicht um eine
weitere Schlachtbeschreibung mit allen militärischen Einzelheiten gehen. „Des
Ruhmes Lohn“ ist im gleichnamigen Buch hinreichend beschrieben worden. Uns
interessiert der Ort. Es ist trotzdem dringend zu empfehlen, eine
Schlachtbeschreibung zu lesen, um vor Ort besser suchen und recherchieren zu
können. Vorab mögen hier einige nüchterne Zahlen, die der Besucher in den
Museen vor Ort erfährt, die Ausmaße und Dimensionen der Kämpfe verdeutlichen: Die Schlacht von Verdun fand vom 21. Februar
bis 19. Dezember 1916 statt. 1917 verlagerten sich die Kämpfe auf das Westufer
der Maas zum so genannten Toten Mann (Le Mort Homme) und die Höhe 304. Zu
dieser Zeit waren neben Deutschen und Franzosen auch die Amerikaner unter General Pershing beteiligt, die die
Franzosen entlasten sollten.
In den 300 Tagen schwerster Kämpfe wurden rund 50 Millionen Granaten und
Wurfminen verschossen. In diesem schier unglaublichen Inferno starben 300.000 Soldaten,
400.000 weitere wurden verwundet und schwer verstümmelt. Häufig erlitten die
Soldaten Posttraumatische Stresserscheinungen (PTSD), die sich in lang
anhaltendem Zittern, nächtlichen Alpträumen oder „Wahnsinn“ äußerten. Verdun
hieß bei den Soldaten Blutpumpe, Knochenmühle oder schlicht „die Hölle“. Durch
diese Blutpumpe jagten beide Seiten rund 120 Divisionen, abwechseln durchliefen
über 2 Millionen Mann die Schlacht. Hinzu kamen rund 2.500 Geschütze.
Die Deutschen eröffneten den Angriff unter dem Namen „Operation Gericht“
beiderseits der Maas mit dem Ziel, möglichst viele französische Truppen zu
binden und zu vernichten. Durch die Schwächung sollten die Entente mit England
auseinanderdividiert werden. Das Gegenteil trat ein: Die Briten starteten im Sommer
1916 einen Entlastungsangriff an der Somme. Auch ein Durchbruch zu unweit
gelegenen Industriegebieten lag im Kalkül der Heeresleitung. Im Zentrum aller
Bemühungen standen die Befestigungen rund um Verdun, ein Sperrgürtel aus so
genannten Forts, Namen wie Fort Douaumont und Fort Vaux dominierten in den
Berichten beider Seiten. Hier finden sich auch die heftigsten Kampfspuren. Die
Schlacht wurde auch zu einem persönlichen Duell der beiden Oberkommandierenden
Pétain (Frankreich) und Falkenhayn (Deutschland). „Sie werden nicht
durchkommen“, dieses Ziel erreichten die Franzosen. Verdun endete nach
Entlastungsoffensiven der Verbündeten Frankreichs mit einer Niederlage des
deutschen Westheeres. Die Truppen beider Seiten wiesen eine Qualität auf, wie
sie zu keiner Zeit mehr erreicht wurde.
Das Schlachtfeld
Das Gelände umfasst in Verdun 26.000 Hektar. Ein großer Teil mit den
Forts und großen Gedenkstätten östlich der Maas, ein weiteres Gebiet mit den
markanten Punkten Le Mort Homme und Höhe 304 westlich davon. Die Kernzone (Zone
Rouges) rund um die Forts Douaumont und Fort Vaux nordwestlich der Stadt Verdun
wurde nie wieder mit Menschen besiedelt und umfasst rund 10.000 Hektar.
Schwermetalle, Arsen, Relikte des Gaskampfes mit Senfgas und Phosgen im Boden
ließen Wohngebiete als zu riskant erscheinen. Große Teile des Schlachtfeldes
sind mit Wald und Gebüsch bedeckt. Robuste Kleidung und Wanderschuhe muss also
mitbringen, wer tiefer in die Geheimnisse und Strukturen des Schlachtfeldes
eindringen will. Warnung: Es liegen unbekannte Mengen Blindgänger im Gelände,
oft spült der Regen sie an die Oberfläche. Auch zu bedenken: Verdun ist ein
großer Friedhof. Knochen liegen an manchen Stellen unbestattet herum. Mit etwas
Laub, Pietät und Erde bringt der Besucher die sterblichen Überreste nach
Regenfällen wieder unter die Erde.
Der Weg nach Verdun
Nach Verdun gelangt man aus Trier über Luxemburg oder aus Saarbrücken.
Der Reisende folgt zunächst der Beschilderung nach Metz. Aus Norden führt der
Weg über Landstraßen oder aus Westen über die französische A4. Im letzten
Abschnitt folge man der Beschilderung Verdun Champs de Bataille. Auch mit dem
Zug ist Metz der erste Anfahrtspunkt, dann weiter bis Meuse. Mietwagen, Auto
und Bike sind unerlässlich, zu groß sind die Dimensionen des Schlachtfeldes.
Zwei Tage sollte sich der Besucher nehmen. Die Beschilderung ist gut. Viele
Wege und Straßen sind vorhanden, nur unmittelbare Erkundungen zu einzelnen
Gräben, Bunkern und Unterständen führen durch unwegsames Gelände.
Zwei Tage sollte sich der Besucher nehmen. Für rund 100 Euro gibt es
Zimmer in der Stadt Verdun. Führungen lassen sich beim Fremdenverkehrsbüro
buchen, ebenso Karten und Broschüren.
Wichtige Stationen
Erstbesucher beginnen die Tour sinnvollerweise im
Mémorial von Verdun. Das Museum wurde im Februar 2016 nach zwei Jahren
des Umbaus und der Erweiterung wieder geöffnet. Der zirka zweistündige Rundgang
für 8 EUR durchs Museum vermittelt alle notwendigen Kenntnisse der Schlacht und
widmet sich vor allem dem Leben des einzelnen Soldaten. Der Besucher sollte
sich hier unbedingt eine Karte mitnehmen, um den weiteren Besuch gut planen zu
können.
Weiter geht es zum Beinhaus von Verdun. Der riesige Turm ist weithin zu sehen. Es wurde
am 7. August 1932 vom damaligen französischen Staatspräsidenten Albert Lebrun
eröffnet. Hier fanden 130.000 unidentifizierte Gefallene ihre letzte Ruhe. Die Fassade
trägt die Wappen der Städte, die zur Errichtung dieses Denkmals beigetragen
haben. Der 46 m hohe Turm überragt das
gesamte Schlachtfeld, der Besucher steigt hinauf und hat einen guten Blick über
das gesamte Areal.
Blick vom Beinhaus über das Schlachtfeld
von Verdun
Das Beinhaus besteht aus 22 Abteilungen mit 46
Grabzellen aus Granit. Die Zellen sind nach Abschnitten des Schlachtfeldes
geordnet und enthalten Gebeine, die im jeweiligen Abschnitt gefunden wurden.
Vor dem Beinhaus liegt der Soldatenfriedhof von Douaumont, hier wurden 15.000 bekannten
französischen Soldaten begraben.
Der Turm des Beinhauses, Schauplatz der
historischen Begegnung von Francois Mitterand und Helmut Kohl
Vom Beinhaus führt uns der Weg zum so genannten Bajonettgraben. Am 12. Juni 1916 wurde eine Einheit
des französischen 137. Infanterieregiments der Überlieferung nach lebendig
verschüttet. Als einziger Hinweis auf die Soldaten ragen die Bajonettspitzen
bzw. Gewehrspitzen einige Zentimeter aus der Erde. Anderslautenden Angaben
zufolge haben deutsche Soldaten das Grab der Toten mit den Gewehrspitzen nachträglich
markiert. 1920 wurde auf Anregung eines amerikanischen Bankiers ein
bunkerähnliches Denkmal an der Stelle
des ehemaligen Schützengrabens errichtet.
Bevor es
zu den Forts von Verdun geht, sollte der Besucher einen Blick auf eines der zerstörten
Dörfer werfen. 9 Dörfer wurden ausgelöscht und nie wieder aufgebaut:
Beaumont, Bezonvaux, Cumières, Douaumont, Louvemont, Fleury, Haumont,
Louvement, Ornes und Vaux. Heute weisen nur noch Schilder auf diese Dörfer hin,
in denen Wohnhäuser, Läden oder öffentliche Institutionen, wie die Schule oder Lebensmittelläden,
einzeln ausgeschildert sind.
Der Höhepunkt jeder Verdun-Tour ist ein Besuch
der Forts Douaumont und Vaux. Douaumont sollte der Besucher von außen,
Fort Vaux auch innen besuchen. Beide Forts gehörten zu den Schlüsselstellungen
der Schlacht. Um die Forts herum zeugen die verwitterten Granattrichter einer
verwüsteten Landschaft von der Heftigkeit der Kämpfe.
Das Fort Douaumont von außen, die Spuren
der Kämpfe sind deutlich zu sehen
Und dann das Fort Vaux. Hier fanden die wohl furchtbarsten
Nahkämpfe der Schlacht statt. Lassen wir Kurt Tucholsky zu Wort kommen, der in
der „Weltbühne“ im August 1924 seinen Besuch in diesem Fort für die Nachwelt
dokumentiert hat:
„Der Wagen hält. Diese kleine
Hügelgruppe: das ist das Fort Vaux. Ein französischer Soldat führt, er hat eine
Karbidlampe in der Hand. Einer raucht einen beißenden Tabak, und man wittert
die Soldatenatmosphäre, die überall gleich ist auf der ganzen Welt: den Brodem
von Leder, Schweiß und Heu, Essensgeruch, Tabak und Menschenausdünstung. Es
geht ein paar Stufen hinunter.
Hier. Um diesen Kohlenkeller
haben sich zwei Nationen vier Jahre lang geschlagen. Da war der tote Punkt, wo
es nicht weiter ging, auf der einen Seite nicht und auf der andern auch nicht.
Hier hat es haltgemacht. Ausgemauerte Galerien, mit Beton ausgelegt, die Wände
sind feucht und nässen. In diesem Holzgang lagen einst die Deutschen;
gegenüber, einen Meter von ihnen, die Franzosen. Hier mordeten sie, Mann gegen
Mann, Handgranate gegen Handgranate. Im Dunkeln, bei Tag und bei Nacht. Da ist
die Telefonkabine. Da ist ein kleiner Raum, in dem wurde wegen der Übergabe
parlamentiert. Am 8. Juni 1916 fiel das Fort. Fiel? Die Leute mußten truppweise herausgehackt
werden, mit den Bajonetten, mit Flammenwerfern, mit Handgranaten und mit Gas.
Sie waren die letzten zwei Tage ohne Wasser. An einer Mauer ist noch eine
deutsche Inschrift, mit schwarzer Farbe aufgemalt, schwach zu entziffern. Und
dann gehen wir ins Verbandszimmer.
Es ist ein enges Loch, drei
Tische mögen darin Platz gehabt haben. Einer steht noch. An den Wänden hängen
kleine Schränke. Oben ist, durch eine Treppe erreichbar, der Alkoven des
Arztes. Ich habe einmal die alte Synagoge in Prag besucht, halb unter der Erde,
wohin sich die Juden verkrochen, wenn draußen die Steine hagelten. Die Wände
haben die Gebete eingesogen, der Raum ist voll Herzensnot. Dieses hier ist viel
furchtbarer. An den Wänden kleben die Schreie – hier wurde zusammengeflickt und
umwickelt, hier verröchelte, erstickte, verbrüllte und krepierte, was oben
zugrunde gerichtet war. Und die Helfer? Welcher doppelte Todesmut, in dieser
Hölle zu arbeiten! Was konnten sie tun? Aus blutdurchnäßten Lumpen auswickeln,
was noch an Leben in ihnen stak, das verbrannte und zerstampfte Fleisch der
Kameraden mit irgendwelchen Salben und Tinkturen bepinseln und schneiden und
trennen, losmeißeln und amputieren...
Linderung? Sie wußten ja nicht
einmal, ob sie diese Stümpfe noch lebendig herausbekämen! Manchmal war alles
abgeschnitten. Die Wasserholer, die Meldegänger – wohl eine der entsetzlichsten
Aufgaben des Krieges, hier waren die wahren Helden, nicht im Stabsquartier! –,
die Wasserholer, die sich, mit einem Blechnapf in der Hand, aufopferten, kamen
in den seltensten Fällen zurück. Und der nächste trat an . . . Wir sehen uns in
dem leeren, blankgescheuerten Raum um. Niemand spricht ein Wort. Oben an dem
Blechschirm der elektrischen Lampe sind ein paar braunrote Flecke.
Wahrscheinlich Rost...
Vor dem Tor hat man für einige
der Gefallenen Gräber errichtet, das sind seltene Ausnahmen, sie liegen allein,
und man weiß, wer sie sind. An einem hängt ein kleiner Blechkranz mit silbernen
Buchstaben: Mon mari.
Und an einem Abhang stehen alte
Knarren, die flachen, schiefgeschnittenen Feldflaschen der Franzosen, verrostet,
zerbeult, löcherig. Das wurde einmal an die durstigen Lippen gehalten. Wasser
floß in einen Organismus, damit er weitermorden konnte. Weiter, weiter…“
Quelle: Kurt Tucholsky, Vor
Verdun, Die Weltbühne, 07.08.1924, Nr. 32, S. 218.
Den Abschluss sollte der
Verdun-Besucher vor seiner Rückkehr in die Stadt im freien Gelände machen. Bei
der Fahrt mit dem Auto werden Stellungen, Schützengräben und Unterstände
angezeigt. Eindrucksvoll ist dabei besonders die Todesschlucht, Ravin de la Mort, unweit von Bajonettgraben
und Beinhaus. Zahlreiche Bodenfunde und Schützengräben zeugen von der
Heftigkeit der Kämpfe an dieser Stelle.
An diesem Ort besonders
intensiven Sterbens sollte noch einmal Tucholsky zu Wort kommen. Sein Satz hat
in der Gegenwart für andere Hintergründe nichts von seiner Aktualität
eingebüßt: „Denn das Entartetste auf der Welt ist eine
Mutter, die darauf noch stolz ist, das, was ihr Schoß einmal geboren, im
Schlamm und Kot umsinken zu sehen.“