Donnerstag, 22. Januar 2015

100 Jahre Erster Weltkrieg Der "Grabenfuß" – Ein Beitrag zur Geschichte des Sanitätswesens im "Großen Krieg"

„Alles nass und dreckig hier, man fault buchstäblich an“, schreibt der Soldat Fritz Niebergall im Januar 1915 von der Westfront seinen Eltern nach Hause. Socken stehen in seinen Briefen ganz oben auf der Wunschliste. Der junge Soldat beschreibt ein Phänomen, das bald zum Horror für die Soldaten aller Nationen werden sollte: Denn neben dem so genannten „Kriegszittern“ (Englisch „Shell Shock“), den „Kriegszermalmten“, d. h. durch Granatsplitter schwerst entstellten Soldaten, war der  „Grabenfuß“, medizinisch „Immersionsfuß“, (Englisch „Trench Foot“, Französisch “Pied de tranchée“) eine extrem gefürchtete Folge des Grabenkampfes im Ersten Weltkrieg.


Bild: "Grabenfuß" eines französischen Soldaten, vermutlich kurz vor der Amputation
Quelle: Bibliothèque et Archives Canada/PA-149311

Vorgeschichte

Vereinzelte Berichte über „Immersionsfüße“ hatte es bereits im 19. Jahrhundert aus Kriegen in Russland gegeben. Das Phänomen ist durch Dominique Jean Larrey, Feldarzt der „Großen Armee“ in den Kriegen Napoleons, genauso bezeugt wie aus dem Krimkrieg 1853 bis 1856. Auch die Balkankriege, die dem Ersten Weltkrieg vorausgehen, kennen diese Erkrankung, die von Feldchirurgen oft mit der Kälte an den genannten Kriegsschauplätzen in Verbindung gebracht wird. Zum Massenphänomen wird der Immersionsfuß aber im Ersten Weltkrieg. Seit Herbst 1914 hatten sich die Soldaten im Westen vom Ärmelkanal bis zur Schweizer Grenze eingegraben, um sich vor der verheerenden Wirkung der Artillerie, den Splittern und den Maschinengewehren wenigstens notdürftig zu schützen. Speziell in Flandern/Belgien stießen sie dabei nach kurzer Zeit auf Grundwasser. An anderen Frontabschnitten hatte wochenlanger Regen die Schützengräben in einen Morast verwandelt. Und in diesem Morast standen Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten knietief in schlammigem Wasser. Das sollte bald Folgen haben.



Ausbreitung

Verlässliche Daten zur exakten Ausbreitung des „Grabenfußes“ gibt es nicht. Das hat einen einfachen Grund. Militärärzte unterschieden den Immersionsfuß zunächst nicht von anderen Kälteschäden, wie der Wehrmediziner Professor Hans Killian nach dem 2. Weltkrieg feststellte. Die Sanitätsberichte über das Deutsche Heer des Reichskriegsministeriums lassen darauf schließen, dass der Schwerpunkt der Erkrankungswelle in den Jahren 1914/1915 lag. Ab 1915 greifen in allen Armeen Präventionsmaßnahmen. Auch breitet sich das Phänomen in den Herbst- und Wintermonaten aus. Der Sanitätsbericht konstatiert: „Im November erfroren sich vom XXV. Reservekorps 15 Leute die Füße beim Dienst im Laufgraben; bei 14 Soldaten mussten zum Teil die Unterschenkel abgenommen werden.“ Beunruhigend ist für die Mediziner, dass es nicht der scharfe Frost ist, der die Erkrankung befördert: „Weitere 150 Erfrierungen wies das Korps auf, trotzdem die Außentemperatur kaum unter 0 Grad heruntergegangen war.“ Hier stoßen wir zum ersten Mal auf die typische Erscheinungsform des „Grabenfußes“: Tatsächlich ist die Kombination aus niedrigen Temperaturen und Nässe, die den „Immersionsfuß“ befördert. Professor Hans Killian weist aus Versuchen und aus der Statistik des 1. Weltkrieges nach, dass diese Kombination für den Soldatenfuß bis zu Temperaturen von 10-12 Grad verhängnisvoll ist.

Auch die Franzosen leiden währenddessen unter diesem Phänomen. Hier erkranken z. B. in einem Kolonialbattalion, das aus 2324 Mann besteht, 233 Soldaten im Frontabschnitt am Chemin de Dames im feuchten April des genannten Zeitraums. Auch in Frankreich wird zunächst von Kälteschäden gesprochen. Die sorgfältigste Statistik führen die Briten: Hier verzeichnen die Militärhistoriker schon im ersten Kriegshalbjahr 1914 rund 20.000 Fälle. Damit dürfte klar sein, dass spätestens an der Jahreswende 1914/1915 der „Grabenfuß“ zum Massenphänomen geworden ist.

Voraussetzungen

Die Leitfähigkeit von Wasser ist 20mal höher als die von Luft. Damit ist eine westliche Bedingung für die Entstehung des „Grabenfußes“ genannt. Grundsätzlich treffen eine feuchte Umgebung und niedrige Temperaturen aufeinander. Ob man dann letztlich am „Grabenfuß“ erkrankte, hing sowohl von den Einsatzbedingungen als auch von den eigenen Voraussetzungen ab. Grundsätzlich waren es die Fronttruppen in den Schützengräben, die die höchsten Erkrankungsraten aufwiesen. Wehrmediziner sehen das Problem zwar auch bei scharfem, trockenem Frost. Hier kommt es sicher zu Erfrierungen. Aber zusätzlich gefährlich wurde es für die Soldaten, wenn zur Kälte die Nässe hinzukam. War der Soldatenfuß länger als 10 Tage einem schlammigen Milieu ausgesetzt, ohne den Fuß waschen, trocknen und wärmen zu können, war die Gefahr extrem hoch. Temperaturen über dem Gefrierpunkt reichten bereits völlig aus. Kam zur Oberseite des Stiefels dann Matsch und Schnee ins Schuhwerk, der am Fuß taute, weichte die Haut durch und es konnten zusätzlich Bakterien die Infektionsgefahr erhöhen. Diese Voraussetzungen waren im Herbst 1914 an der ganzen Westfront gegeben. Kamen dann noch anlagebedingte Gefäßentzündungen, enge Stiefel, hockende Haltung, Sklerosen bei Rauchern, mangelnde Hygiene und schlechte, vitaminarme Ernährung bei einzelnen Soldaten hinzu, ergab das die gefährliche Kombination, die den „Grabenfuß“ beförderte.

Erkrankungsstadien

Bei einer Kombination aus Feuchtigkeit und Kälte verliert der Fuß zunächst schnell seine Wärme. In den Schützengräben waren die Soldaten darüber hinaus oft zu absoluter Bewegungslosigkeit gezwungen. Unter diesen Bedingungen versagt die „natürliche Klimaanlage“, die unser Gefäßsystem darstellt. Der Aufenthalt im kalten Schlamm lässt den Fuß bis in die Tiefe auskühlen. Hier liegt der entscheidende Unterschied des Immersionsfußes zu oberflächlichen Erfrierungen. Der Soldat bemerkte dies zunächst durch zunehmenden Kälteschmerz im Fuß. Das oft sehr enge Schuhwerk der Grabenkämpfer, das Tragen mehrerer Paar Socken, schien für den Betroffenen oft die Ursache des eigenartig ziehenden Tiefenschmerzes zu sein. Am Anfang versuchter mancher durch Bewegungen der Zehen dem Phänomen entgegenzuwirken, doch es war vergebens. Dauerte der Aufenthalt im Graben länger, saß der Soldat in der Hocke, kam die Ablösung nicht, verschlimmerte sich das Phänomen. Die Arterien wurden zusätzlich abgeklemmt. Nun traten Parästhesien auf, der Soldat hatte das Gefühl, dass seine Beine „einschlafen“. Mit der Zeit wurden Fuß und Bein taub, blass, runzelig und marmoriert. Ödeme traten auf.

Fotoaufnahmen aus dem Ersten Weltkrieg zeigen, dass die Betroffenen getragen werden mussten. Das Gehen war den Opfern wegen starker Schmerzen in Ballen und Fersen oft unmöglich geworden.

Dauerte die Kälte- und Nässewirkung über viele Stunden und Tage an, stellen sich Nekrosen, irreversible Gewebsveränderungen, ein. Wurden Bein und Fuß jetzt plötzlich erwärmt,  wurden über das Blut Eiweißabbauprodukte ausgeschwemmt und es kam zu Fieber. Die Haut zeigte sich den Sanitätern jetzt prall, gespannt, glänzend und hochrot. Teilweise bildeten sich Blasen. In der Anfangsphase des Krieges jedoch waren Sanitäter und Ärzte oft noch unerfahren: Verzögerungen und Fehler führten dann am Ende zur Gangrän.

Gegenmaßnahmen

Im Winter 1914/1915 mussten die Militärärzte laut Sanitätsbericht den Betroffenen mit weit vorangeschrittenen Krankheitszeichen oft „die Unterschenkel abnehmen“. Die Chirurgen lagen jedoch bereits richtig als sie bei der Ursachenanalyse eine Kombination aus „unbewegter Ruhelage der Füße sowie nasses und verengtes Schuhwerk“ vermuteten. Aus dem Jahre 1916 stammt ein Beitrag von Dr. Dunlap Pearge Penhallow zum „Trench Foot“. Er ist mit dem Amerikanischen Roten Kreuz in Europa und schildert Symptome und Gegenmaßnahmen aus der Sicht eines Mediziners. Sein Beitrag in „Military Surgery“ beschreibt den entscheidenden Erkenntnisfortschritt der Zeit: Der „Grabenfuß“ ist hier nicht länger ein „Frostproblem“, er ist ein „Feuchtigkeitsproblem“. Wie sonst konnte man erklären, dass diese Erscheinung auch bei Temperaturen weit über dem Gefrierpunkt auftrat? Es war diese Erkenntnis, die wirksame Gegenmaßnahmen einleitete.

Bei rechtzeitiger Diagnose, so Penhallow, sei dem Problem noch mit Bettruhe, Schmerzstillung, Bädern sowie dem Einreiben mit Lotionen und Alkohol beizukommen.

Um es nicht zur gefürchteten Amputation kommen zu lassen, rückt er die Prävention in den Vordergrund. Die Stiefel dürfen seiner Ansicht nach nicht zu eng sein, um auch das Tragen von zwei Paar Socken problemlos zu ermöglichen. Wasserabweisende Behandlung der Stiefel und das regelmäßige Wechseln der Socken sind für ihn ein weitere wichtige Prophylaxe-Faktoren. Einmal in 24 Stunden sollen die Stiefel ausgezogen, die Füße von Kameraden oder Sanitätern inspiziert, abgetrocknet und gewärmt werden. Auch die Schützengräben selbst nimmt er ins Visier. Abtritte aus Holz, Dämmungen, Pumpen und Stroh sollen die Durchnässung mildern und damit die Ursache wirksam bekämpfen. Die Maßnahmen werden an der Westfront umgesetzt. Der „Grabenfuß“ verschwindet zwar nicht, seine schrecklichen Folgen können aber in den letzten Kriegsjahren gemildert werden.

Epilog

Und nach dem Ersten Weltkrieg? Die Geschichte des „Grabenfußes“ war nicht zu Ende. Von den Stränden der Normandie 1944, über den Krieg in Vietnam (“Dschungelfäule“) bis zum Falklandkrieg blieb diese Erkrankung trauriger Begleiter der Soldaten in vielen Kriegen.



 Bild 2: In Soldatenzeitschriften wurde vor den Folgen der Erkrankung gewarnt

Doch nicht nur da: Noch 1985 registrierte die Bundeswehr Beeinträchtigungen bei längeren Übungen. Sicher wissen Militärärzte heute weit mehr über Vorbeugung, doch nicht immer lässt die Realität des Einsatzes die notwendigen Maßnahmen zu.

Fachbeitrag erschienen OST / Stefan Slaby 2014

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